Gastbeitrag von Christian Cimpa
Verschiedenartigkeit ist ein “teures” Gut
Menschen sind sehr unterschiedlich. Im Hinblick auf unsere phylogenetische Entwicklung ist dieser Tatsache der Begriff der Variation zugeordnet, die quasi als unsere stammesgeschichtliche Lebensversicherung dafür verantwortlich war, dass unsere Spezies alle bisherigen Herausforderungen gemeistert hat. Die Diversität innerhalb der Gattung ist aber nicht nur für die Evolution von Bedeutung, sie ist auch unterhaltsam. Wie langweilig wäre es, wären alle Individuen völlig gleich – wie etwa bei der Armenischen Felseidechse, die sich ausschließlich durch Parthenogenese – also eingeschlechtliche Reproduktion – fortpflanzt! Aber alles hat seinen Preis. Die unterschiedlichen Fähigkeiten, Bedürfnisse, Neigungen u.dgl. sind ein fruchtbarer Nährboden für Konflikte aller Art. Unverständnis, Misstrauen und Neid bis hin zu offenem Hass gedeihen hier prächtig. Doch selbst diese Regungen sind – als Teil der emotionalen Grundausstattung aller höher entwickelten Lebewesen – ein ursprünglich sinnvolles Instrumentarium des Überlebens. Die fortschreitende Verdichtung und Inklusion menschlichen Zusammenlebens erfordert allerdings eine Neubewertung und einen sorgsamen Umgang mit archaischen Impulsen. Anders gesagt: Wir können heute nicht mehr – wie weiland im wild wuchernden Wald – mit erhobenem Beil auf jeden losstürmen, dessen Anwesenheit uns nicht behagt. Zivile Umgangsformen, gegenseitige Achtung, Respekt vor dem Anderen werden immer wichtiger.
Die Verantwortung der Regierenden
Trotz seiner vergleichsweise hochentwickelten kognitiven Fähigkeiten fällt der Mensch seine Entscheidungen vorwiegend “aus dem Bauch” heraus. Das ist aufgrund der langen Zeitspanne, in der sich die sehr ausdifferenzierten Gefühlsregungen und ihre sozialen Kontrollmechanismen entwickelt haben, in der Regel nicht weiter problematisch. Allerdings unterliegen unsere Emotionen – anders als unsere intellektuellen Äußerungen – keiner weiteren Bewertung. Sie sind für uns absolut. Wir identifizieren uns gar mit ihnen und halten sie für “unser Wesen”. Dabei sind Emotionen in ihrer Entstehung durchaus nicht auf das Innere eines Individuums beschränkt, oft sind sie sozial vermittelt, oft werden sie von ganzen Gruppen geteilt, für die sie identitätsstiftend sein können. Manchmal sind sie politisch geschürt – und das selten in positiver Absicht. Dass es völlig unangebracht ist, aus einer Machtposition heraus kollektive Negativ-Emotionen zu wecken, lehrt uns die Geschichte, die voll ist von Beispielen dafür, welche Auswirkungen das fahrlässige oder vorsätzliche Entfachen des Volkszorns zeitigen kann. Verhetzung ist brandgefährlich. Nach der Mitte des 20. Jahrhunderts schien sich in Europa diese Einsicht weitgehend und nachhaltig etabliert zu haben, und für große Teile der westlichen Welt begann innen- wie außenpolitisch eine relativ friedvolle Zeit. Diese scheint nun vorbei.
Jetzt: Corona
Die menschliche Emotionalität wurde als politisches Instrument wiederentdeckt. Das ist abstoßend, aber nicht verwunderlich. Die jüngste österreichische Geschichte hat uns gelehrt, dass in schweren Bedrohungszeiten eine starke, entschlossen auftretende Regierung Zustimmungswerte von 80% und mehr erreichen kann. Allerdings nicht lange. Menschen sind eben keine Eidechsen, und mit Fortdauer der Krise zeigte sich wieder unsere Verschiedenartigkeit. Nicht alle von uns ließen sich dauerhaft von der medial transportierten Pandemie-Panik paralysieren, viele fürchteten ihr persönliches wirtschaftliches oder soziales Scheitern mehr, anderen schienen die verordneten Maßnahmen nicht angemessen. Da war es fast logisch, dass die verantwortlichen Politiker zum Gegenschlag ausholten und alle Hebel in Bewegung setzten, die bröckelnden Fronten zu stabilisieren. Die “Abtrünnigen” wurden diffamiert, ausgegrenzt und zu Schuldigen gestempelt. Das mag ein geschickter Schachzug gewesen sein, aber für die Betroffenen war es Hate speech. Zu hören, dass man für den wirtschaftlichen und sozialen Niedergang einer Nation verantwortlich ist, schuld an bereits zu beklagenden Todesfällen und an prognostizierten künftigen Massensterben, und dass man damit eigentlich das Recht verwirkt hätte, in seinem eigenen Staat zu leben, enthält alle Elemente von Hate speech, und zwar in fast ins Absurde gesteigerter Form. Wenn diese Aussagen gar von regierenden Politikern kommen, haftet ihnen noch dazu etwas Brandgefährliches, Hetzerisches an, etwas, das bis vor Kurzem bei uns aus gutem Grund verpönt war.
Hate speech setzt sich durch
Das massiv auftretende mediale Meinungsmonopol zeigte Wirkung. Der größere Teil der Bevölkerung ließ sich davon überzeugen, dass der kleinere Teil asozial, intellektuell minderwertig und radikal war, und sprach das nach. Von “Vollpfosten” war in öffentlichen Medien die Rede, von “ruralen, wissenschaftsfernen Schichten”, von “Parasiten”. Bekannte Journalisten setzten das Wort “Menschen” unter Anführungszeichen, wenn sie über diese Bevölkerungsgruppe schrieben oder meinten, man solle gegen Demonstranten nicht mit Wasserwerfern vorgehen – Flammenwerfer wären angebrachter. Für viele Mainstream-Anhänger war diese neue Situation höchst attraktiv. Sie durften sich nun Nachbarn und (ehemaligen) Freunden gegenüber intellektuell überlegen fühlen, und das staatlich zertifiziert. Und sie durften alle Schimpfwörter und Beleidigungen auspacken und anwenden, für die es bisher keinen passenden Kontext gegeben hatte.
Aber es war doch rechtens?
Die Situation war mehr als vertrackt. Während die eine Seite etwa bei Diskussionen auf Social Media-Plattformen die unvorstellbarsten Beleidigungen austeilte ohne Konsequenzen erwarten zu müssen, wurde auf der anderen Seite u.U. die bloße Bitte, man möge sich nicht auf eine solch unsachliche Ebene herablassen, mit einer Verwarnung oder gar einer mehrwöchigen Sperre geahndet. Man war im Recht. Dabei hat Hate speech gar nichts mit Recht- oder Nicht-Rechthaben zu tun. Die Definition von Hate speech folgt formalen Kritierien. Sollten also all die prekären Aussagen aus einer gesicherten wissenschaftlichen Position heraus gegen tatsächlich irregeleitete Personen getätigt worden sein, wären sie immer noch – Hate speech. Auch wenn jene das nicht wahrhaben wollen, die in ihrem aufgestachelten Hass meinen, diese “Urteile” wären angemessen. Hate speech kann niemals angemessen sein.
Und wie die Dinge lägen, wenn die andere Seite das Momentum des Rechthabens bei sich hätte, ist gar nicht auszudenken …