Presseaussendung der GGI-Initiative am 12.03.2024
Drei Geisteswissenschaftler diskutierten am 24. Jänner 2024 unter der Moderation von Daphne Hruby die Lehren aus der Corona-Krise: Heinz Bude von der Uni Kassel, Alexander Bogner von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und Klaus Kraemer von der Uni Graz. Die Diskussion der Gesellschaft für Soziologie an der Universität Graz unter dem Titel „Gesellschaft im Ausnahmezustand – Was lernen wir aus der Corona-Krise“ ist hier online nachzuhören.
Datenmisere von Anfang bis Ende
Heinz Bude strich in seinem Eröffnungsstatement heraus, welch schwierige Entscheidungen in den Beratungsgremien zu fällen gewesen waren und dass in der Corona-Krise die individuellen Freiheitsrechte gegen die sozialen Wohlfahrtsrechte und die politischen Beteiligungsrechte abzuwägen gewesen seien.
Der Soziologe Klaus Kraemer deponierte sein Unverständnis über die Art und Weise der Datenpolitik. Warum über drei Jahre kein Monitoring der Maßnahmen gemacht und keine empirische Sozialforschung beauftragt wurde, sondern die Politik sich an Computermodellierungen von Mathematikern und Physikern orientierte, bleibt ein Rätsel. Die Politik sei drei Jahre lang in absolutem Blindflug unterwegs gewesen, eine Datenstrategie wurde nie implementiert. Ein systematischer Erkenntnisgewinn wurde weder in der Politik noch in der Wissenschaft angestrebt.
Für Kraemer ist es nach wie vor unverständlich, warum es keine Verlaufsstichproben, keine Kontrollgruppen, keine empirischen Datenstrategien im deutschsprachigen Raum gab, warum die banalsten Dinge unterlassen worden waren. Die Maßnahmen hatten somit keine fachliche Grundlage. Die Debatte war politisiert und intransparent, was den Boden für Verschwörungstheorien bereitete. Dieses kolossale Datenversagen sowie die Verzerrung von Fachbegriffen und die Gründe für das Verstummen vieler Experten seien dringend zu analysieren.
Laut Alexander Bogner war die Datenlage zwar schlecht, die Zahlengläubigkeit aber hoch, was zu einem virologischen Tunnelblick führte.
Keine Anpassung an aktuelle Erkenntnisse
Der Public Health Experte Martin Sprenger, der sich in der anschließenden Fragenrunde zu Wort meldete, betonte den soziologische Konsens, dass Krisen soziale Ungleichheiten vergrößern. Die Maßnahmenpolitik habe darauf keine Rücksicht genommen, sondern im Gegenteil das Auseinanderdriften der Gesellschaft noch befördert und viele Krisenverlierer produziert. Es kam zu regelrechten Entgleisungen, wie dem angeordneten Testregime, wo Österreich im Bildungsbereich 100-Mal mehr testete als andere Länder. Generell führte Österreich 20-Mal mehr Massentests durch als etwa Deutschland oder die Schweiz. Auch die Dauer der Schulschließungen war vollkommen überzogen: mit bis zu 39 Wochen in Österreich, im Vergleich zu nur sechs Wochen in der Schweiz oder den immer offenen Schulen in Schweden. Fakten, die spätestens seit Sommer 2020 (!) auf dem Tisch lagen, wurden konsequent ignoriert und führten zu keinen Änderungen im österreichischen Risikomanagement:
- Infektionsgeschehen ungleich verteilt;
- Krankheitsgeschehen (vulnerable Gruppen) ungleich verteilt;
- Maßnahmen wirken ungleich (Schulschließung, Homeoffice);
- Tote zu 50 % in Alten- und Pflegeheimen (rund 1 % Bevölkerung lebt dort);
- Altersdurchschnitt der Toten 83 Jahre;
- Kinder und Jugendliche kaum betroffen;
- Negative Folgen der Schulschließungen (Schulen wurden wie Pflegeheime behandelt)
Generell sah die Politik auf dem virologischen Auge scharf, auf dem soziologischen Auge war sie blind. Die Folgenabschätzung der Maßnahmen passierte maximal in wirtschaftlicher Hinsicht, die gesellschaftspolitischen Auswirkungen wurden trotz warnender Stimmen vollkommen vernachlässigt.
Singuläre Krisen enden in Erschöpfung und kollektiver Verdrängung
In der Soziologie spricht man von singulären Krisen, wenn sich die Gesellschaft in einem Ausnahmezustand befindet. Solche singulären Krisen laufen laut Kraemer in mehreren Phasen ab: Als erstes kommt der Schockmoment, in der Corona-Krise waren das die immer wieder rezipierten Bilder von Bergamo. Als zweites formiert sich eine Opposition zur Krisenerzählung, Politik und Medien stigmatisieren diese anderen Sichtweisen jedoch. Ein offener Diskurs ist kaum möglich, der Meinungskorridor verengt sich. Dies führt als drittes zu einer Polarisierung bis hin zu einer Radikalisierung von Teilen der Gesellschaft. Die Krise endet, wenn alle erschöpft sind. Aus dieser Erschöpfung heraus folgt die kollektive Verdrängung. An eine Krise sollte jedoch ein reflexiver Lernprozess anschließen. Das gewonnene soziologische Wissen könnte eine Gesellschaft für die Zukunft gegen überschießende Katastrophenszenarien immunisieren.
Kraemer spricht von einer „Kollektivmoral der Befürchtungsgemeinschaft“, die wahrgenommene Wirklichkeit wird dabei gefiltert. Man kommuniziert, als wären alle von der Krise in gleicher Weise existentiell bedroht, was nicht stimmt, Fakten (wie ungleiche Betroffenheit je nach Alter) werden ausgeblendet.
Bude prognostiziert weitere singuläre Krisen, von der Klimakrise bis zum Krieg in Europa. Er meint, es müssen dafür Instrumentarien geschaffen werden, um die individuelle Folgebereitschaft und Verhaltensänderung der Menschen mit staatlicher Legitimation leichter erzwingen zu können. Er zeigte sich auch in der Rückschau begeistert von dem angewendeten Kniff einer Quasi-Wissenschaftskommunikation durch den Terminus „Flatten the Curve“, wodurch der Bevölkerung vermittelt wurde, wenn sie die Maßnahmen brav umsetze und diszipliniert sei, könne man die durch das individuelle Wohlverhalten erzielte Abflachung des Infektionsgeschehens grafisch in einem Diagramm veranschaulichen.
Es gibt kein Zurück
Kraemer führt aus, dass in großen Krisen die Kontrollmechanismen von liberalen Demokratien versagen. Die Opposition folge großteils der Krisenerzählung, die Medien, die sonst Meinung und Gegenmeinung publizieren, vereinheitlichen die Berichterstattung. Auch im Wissenschaftssystem wird auf den normalen Mechanismus der Prüfung von Evidenz und Gegenevidenz verzichtet. Das Rechtssystem vernachlässigt die verhältnismäßige Abwägung von Nutzen und Schaden, von Freiheitsrechten gegenüber dem Schutz der Bevölkerung. Wir seien alle existenziell bedroht, auch ohne dass Daten das belegten, es kommt zu einer Kollektivmoral der Superbedrohung.
Bogner ergänzt, dass es in singulären Krisen oft symbolische Autoritäten gebe, wie es etwa Sebastian Kurz in Österreich war, Christian Drosten in Deutschland oder Anders Tegnell in Schweden. Die Lernkurve von Entscheidungsträgern während einer Krise sei hingegen minimal. Der einmal beschrittene Weg könne nur schwer wieder verlassen werden. Eine Legitimation und auch die Kosten für eine Umkehr sind schwierig zu argumentieren und überfordern politische Entscheidungsträger. Nicht von ungefähr wurde aus politischem Unvermögen die Maskenpflicht in den Wiener Verkehrsbetrieben erst so spät aufgehoben, Bogner spricht von “Trampelpfaden der Entscheidung”.
Sozialwissenschaftliche Aufarbeitung
Alexander Bogner erklärt das Zustandekommen der Regierungs-Aufarbeitungsstudien, die er federführend für die Akademie der Wissenschaften begleitete. Die Politik wollte eine umfassende Aufarbeitung, die aber die Sozialwissenschaften in der Form nicht liefern können. Wichtig sei es, dass akute Krisen möglichst schnell mit einem breiten, interdisziplinären Blick analysiert werden. Das sei in der Corona-Krise nur sehr unzureichend passiert. Das Reflexionspotential der Sozialwissenschaften sei nicht integriert worden, die politische Konfliktdynamik sei hoch gewesen, etwa bei der Einführung der Impfplicht, wo es weder im Vorfeld, noch begleitend und auch nicht im Nachhinein zu einer offenen Debatte gekommen sei. Ein reines Dafür oder Dagegen habe die Radikalisierung befeuert. Er spricht von “3 M” – Mauscheln (hinter verschlossenen Türen bei der Landeshauptleutekonferenz in Achensee), Mauern (betonen der Alternativlosigkeit) und Moralisieren.
In Krisen solle man mit heroischen Maßnahmen sehr vorsichtig sein, weil sie dem Geist einer liberalen Gesellschaft widersprächen und zu Vertrauensverlusten führten, wie etwa die „Angstpapiere“, oder die Losung, dass bald jeder jemanden kennen werde, der an Corona gestorben sei. Diese Verengung der Debatte in Politik, Medien und Wissenschaft führe zu Polykrisen, in denen sich die Wirkungen verschiedener Krisen gegenseitig verstärken. Den Vorwurf, dass in den Aufarbeitungsstudien nur lauter Selbstverständlichkeiten gefunden worden wären, kontert Bogner damit, dass diese jedoch während der Krise niemand sehen wollte.
Lehren für die Zukunft
Die Corona-Krise habe die Systemfeindschaft und die Wissenschaftsskepsis verstärkt, sowie Radikalisierungsprozesse befeuert. Dabei richte sich die Skepsis nicht gegen die Erkenntnisse der Wissenschaft an sich, sondern deren Unabhängigkeit werde in Zweifel gezogen, konstatiert Bogner.
Die Experten sind sich einig, dass es zu neuen Krisenlagen kommen werde, die sich auch zu Polykrisen aufschaukeln können. Während Bude eher für mehr Zwang plädiert, um die Folgebereitschaft zu erhöhen, meinen Kraemer und Bogner, dass man auf liberale Aufklärungskampagnen statt drakonischer Maßnahmen setzen, also den schwedischen Weg beschreiten solle. Das habe in den 1980er Jahren bei der Bedrohung durch die Immunschwächekrankheit Aids auch gut funktioniert.
Die Krisenforschung solle man intensivieren und das Risikomanagement professionalisieren. Diesem müsse eine präzise Risikobewertung aufgrund von Daten vorausgehen, der dann eine klare und transparente Risikokommunikation der Bevölkerung gegenüber folgen müsse. Es gibt laut Sprenger drei Strategien der Pandemiebekämpfung:
- Eindämmungsstrategie
- Schutzstrategie
- Folgenminderungsstrategie
Einerseits sei noch nie über eine Krise weltweit so viel dokumentiert und berichtet worden wie über die Corona-Krise, man könne daraus extrem viel für die Zukunft lernen. Andererseits besteht die Sorge, wennbei einer vergleichsweise harmlosen Krise bereits solch massive Grundrechtseinschränkungen verhängt werden, wie Regierungen bei einer tatsächlichen Hyper-Krise reagieren und intervenieren werden.
Kraemer fordert ein, dass eine überschießende Katastrophenkommunikation einzudämmen sei und die soziale Verhältnismäßigkeit von Interventionen im Auge behalten werden müsse. Und dass es womöglich auch geboten sei, die Krisenfestigkeit unserer Grundgesetze zu überprüfen. Die Frage sei, ob die Würde des Menschen als oberstes Prinzip gelte, wie Bude ausführte, oder ob der Wert der Eigenveranwortung und individuellen Freiheit als Maxime das Handeln bestimme, wie Bogner das in der Schweiz feststellte. Je nachdem würde der Weg zu Einschränkungen erschwert oder erleichtert.
Bogner betont die Verantwortung der Politik sowie die reflexive Distanz der Wissenschaft in der Elitenkommunikation, sowie die unbedingte Notwendigkeit einer soliden, sachlichen, wissensbasierten Debatte aller Disziplinen und Betroffenen.
Quelle:
“Gesellschaft im Ausnahmezustand – Was lernen wir aus der Corona-Krise”, Universität Graz, 2024. online: https://www.youtube.com/watch?v=5j5WHi67-go
Ein Gedanke zu „PM: #106 Lehren aus der Corona-Krise: Datenmisere und Tunnelblick“
ich habe mir die 2,5std aufmerksam angesehen und dachte mir wenn man nicht “nur” von den Massnahmen betroffen war, sondern ev auch einen Menschen aufgrund der Massnahmen verloren hat (seis aufgrund der Überforderung der Situation/ Suizid, Vereinsamung im Altersheim, an einer Sinusvenenthrombose od ähnlichem) tut man sich sehr schwer dieser Diskussion zu folgen ohne von Emotionen überflutet zu werden.
Aufgrund eurer Aufarbeitung bin ich auf die Diskussion aufmerksam geworden und danke euch für eure Arbeit sehr. Ich bin bei Martin Sprenger und denke wir können alle sehr viel lernen, wenn wir nur wollten…