Presseaussendung der GGI-Initiative am 20.06.2023
Österreich gehört mit der Dauer des Distanz- bzw. Schichtunterrichts während der Corona-Krise zu den Spitzenreitern in Europa. Obwohl es im Sommer 2020 schon ausreichend Studien gab, die auf die Kollateralschäden von geschlossenen Schulen für die Kinder und Jugendlichen hinwiesen, setzte Österreich auch im Schuljahr 2020/21 weiter auf Schulschließungen. Und das, obwohl die Schüler weder Treiber der Gesundheitskrise noch selber durch die Infektion besonders gefährdet waren.
Bundeskanzler Sebastian Kurz sagte am 10. März 2020 in einer seiner ersten Pandemie-Pressekonferenzen, dass es nicht um „Showmaßnahmen“ gehe und man Schulen „nicht monatelang“ schließen werde können. Tatsächlich passierte aber genau das. Letztlich waren die Schulen in der Corona-Zeit (zwischen März 2020 und Juni 2021) bis zu 39 Wochen für den Regelunterricht geschlossen. Betroffen waren mehr als eine Million Schülerinnen und Schüler. Und dazu noch 380.000 Studierende an Universitäten und Fachhochschulen. In Summe konnte man vermeintlich also mit der Schließung der Bildungseinrichtungen die Sozialkontakte von 1,5 Millionen Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen massiv einschränken.
Der R-Faktor als Rechtfertigung für Schulschließungen
Im Juni 2020 identifizierten Peter Klimek und seine Kollegen vom Complexity Science Hub Vienna (CSH) Schulschließungen als die bei weitem effizienteste Maßnahme, um den Reproduktionsfaktor zu senken. Ihrer – nicht begutachteten – Studie zufolge reduzierten sie die Reproduktionszahl um bis zu 0,34, das heißt, dass eine Person anstatt 3 weitere nur mehr 2,7 ansteckt. Daher ging es auch im Schuljahr 2020/2021 – trotz vieler alarmierender Studien zu den sozial und sozioökonomisch nachteiligen Auswirkungen – mit Schulschließungen weiter. Und Österreich wurde im neuen Schuljahr mit Tschechien, der Slowakei und Slowenien zum Spitzenreiter bei den Schließtagen (10 Wochen komplett, 20 Wochen teilweise). Unterschiede bei den Infektionszahlen ließen sich zwischen Ländern ohne Schulschließungen und solchen mit langanhaltendem Distanzunterricht aber kaum feststellen. Die ursprüngliche Annahme, dass Kinder und Jugendliche Infektionstreiber seien, bestätigte sich nicht.
Zu kurz gedacht
Waren der Grund für Schulschließungen womöglich Überlegungen, dass damit kein großer wirtschaftlicher Schaden verbunden sei, so ist das jedenfalls viel zu kurz gedacht. Wie Studien aus verschiedenen Ländern zeigen, ziehen Schulschließungen langfristig gesehen hohe individuelle und gesellschaftliche Kosten nach sich. Bildungsdefizite bei rund 10 Prozent der Schüler (das sind über 100.000), die nicht oder kaum von den Lehrern erreicht werden konnten, wirken sich auf deren weitere Bildungskarrieren negativ aus, führen zu schlechteren Jobs, zu mehr Arbeitslosigkeit und damit zum notwendigen Bezug von mehr Transferleistungen. [1]
Gesundheit nachhaltig geschädigt
Psychisch gesunde und selbstsichere Kinder können mögliche Lernrückstände besser aufholen. Aber die Psyche wurde durch die Maßnahmen massiv belastet. Zugenommen haben Ängste, depressive Symptome, Essstörungen und Borderline-Diagnosen. Die Kinderpsychiatrien waren konstant im Triage-Modus. Weitere Befunde waren zu wenig Bewegung und zu viel Bildschirmzeit, zudem Schlafstörungen. Durch die Schließungen von Schulen, Sportstätten und Vereinen ist es insgesamt zu einer Verringerung gesunder Verhaltensweisen wie körperlicher Aktivität und Unternehmungen mit Alterskollegen bei gleichzeitiger Zunahme weniger gesunder Ernährungs- und Bildschirmverhaltensweisen gekommen. Sowohl die körperliche als auch die psychische Gesundheit der Schüler und Studenten hat also durch die Maßnahmen massiv gelitten.
Bildungsschere vergrößert
Die Corona-Pandemie und die damit verbundenen Schulschließungen haben weitreichende Auswirkungen auf Bildung, Gesundheit, Lebensqualität und Zukunftsperspektiven von Familien. Vor allem jüngere Kinder aus sozioökonomisch schlechter gestellten Familien sowie lernschwache Kinder, sowie Kinder mit mangelnder Selbstorganisation sind davon besonders betroffen. Es mangelte in der ersten Phase an technischer Ausstattung (mindestens 16 Prozent hatten kein Endgerät), an einem geeigneten Lernumfeld (gerade bei Mehrkindfamilien), an mangelnder Unterstützung durch die Eltern (21 Prozent hatten niemanden, der ihnen half). Auch Sprachbarrieren spielten eine große Rolle. Die Bildungsschere ging also noch weiter auf, konstatiert unter anderem Bildungsexpertin Christiane Spiel.
Nie wieder Schulschließungen
Selbst die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und das UN-Kinderhilfswerk Unicef rufen nun dazu auf, dass Schulen offen bleiben müssen.
Schulschließungen haben den Verlauf der Corona-Krise kaum beeinflusst, den Schülern aber nachhaltig geschadet. Hilfreich, um die Bildungsschere nicht noch weiter auseinander klaffen zu lassen, könnten Programme sein, die Kindern aus einkommensschwachen Familien in Zukunft unbürokratisch die Teilnahme an Ausflügen und Schulfahrten sowie Förderunterricht und Nachhilfe finanzieren.
Kinder und Jugendliche, die Bedarf haben, müssen kostenlosen und raschen Zugang zu therapeutischer, psychologischer bzw. psychiatrischer Hilfe erhalten. Dazu ist der gestern (19.06.2023) vom Gesundheitsminister angekündigte Fonds von zusätzlichen 19 Millionen Euro im Rahmen des Projektes “Gesund aus der Krise” ein kleiner Baustein.
In zukünftigen Krisen müssen die vielfachen negativen Auswirkungen von Maßnahmen auf unsere Kinder und Jugendlichen viel mehr gewichtet werden als ein eingeschränkter Tunnelblick auf epidemiologische Parameter.
Quellen
[1] WIFO Research Briefs, 2021, (15)
Siehe auch
- Pressemitteilung vom 7.3.2023: Entrechtete Kinder und Jugendliche in der Corona-Krise
- Pressemitteilung vom 23.2.2023: Das Corona-Trauma
- Pressemitteilung vom 18.4.2023: Aus Fehlern lernen – (k)ein Herzensanliegen der Regierung