Seit 27. Mai 2024 tagte die Weltgesundheitsversammlung (WHA) in ihrer 77. Sitzung in Genf. Gestern Nacht, am 1. Juni 2024, haben sich die Delegierten der 194 Mitgliedsstaaten auf ein Paket kritischer Änderungen der Internationalen Gesundheitsvorschriften (2005, IGV) geeinigt. Zur Abstimmung kam letztendlich die Version A77/A/CONF./14, obwohl nur wenige Tage zuvor eine andere Entwurfsresolution zur finalen Abstimmung eingebracht wurde. Das Abstimmungsverhalten der einzelnen Länder selbst ist noch nicht bekannt. Das ursprünglich erklärte Ziel die IGV und ein Pandemieabkommen nur gemeinsam zu verabschieden, ist gescheitert. Dies ist insofern sehr besorgniserregend, als die beiden Verträge inhaltlich stark zusammenhängen und sich gegenseitig sogar verstärken.
300 inhaltliche Änderungen vorgeschlagen
Nach über zwei Jahren Verhandlungen zu den Internationalen Gesundheitsvorschriften 2005 (IGV 2005) sind die geänderten IGV inhaltlich zumindest teilweise angenommen. Die vielen weltweiten zivilgesellschaftlichen Proteste der letzten zwei Jahre zu den zahlreichen Streichungen und IGV-Änderungen in Vorentwürfen haben aber dazu beigetragen, dass die Änderungen nur teilweise angenommen wurden. Welche der über 300 vorgeschlagenen inhaltlichen Änderungen nun tatsächlich vertraglich abgebildet wurden, darüber werden wir in einer gesonderten Aussendung berichten.
Die IGV regeln die internationale Zusammenarbeit mit dem Ziel, jegliche Krise (natürlichen Ursprungs, bewusst oder zufällig verursacht) zu verhindern bzw. zu steuern, die einen globalen Gesundheitsnotstand oder auch eine Pandemie auslösen könnte. Dabei ist der Pandemiebegriff zwar nun als Terminus technicus aufgestellt. Aber seine Definition lässt jede beliebige Willkür zu. Woraus sich das Risiko zusammensetzt ist unklar, ebenso ab welchem Wert dieses als hoch gilt. Abgesehen davon dass man die gewünschte Höhe mit mathematischer Akrobatik auch herbei rechnen kann. Länder sollen gemäß den IGV jedenfalls potentielle Gesundheitsgefahren jeglicher Art überwachen und das Auftreten von Krankheitserregern unmittelbar an die WHO melden.
Einige Nationalstaaten scheren aus
Ersten Berichten zufolge dissoziierte sich die Slowakei von der Resolution, und auch Russland und Argentinien behielten sich Rechte bezüglich Änderungen vor, mit Verweis auf ihre Souveränität. Wie das niederländische Parlament verfahren wird, nachdem es kürzlich einen Antrag angenommen hatte, der die Ablehnung der IGV und des Pandemievertrags vorsah, ist abzuwarten.
Die Einigung der WHO-Mitgliedsstaaten zu den umfassenden Änderungen und Ergänzungen überrascht nicht zuletzt deshalb, da die IGV ein rechtlich bindendes internationales Instrument sind. Eine zusätzliche nationale Ratifizierung der geänderten IGV ist hingegen nicht vorgesehen. Ein Staat kann sie jedoch innerhalb von 10 Monaten ab Inkenntnissetzung schriftlich zurückweisen oder Vorbehalte übermitteln („right to opt out“).
Die Einigung ist jedenfalls aus mehrerlei Gründen sehr kritisch zu sehen und wird auch rechtlich zu prüfen sein:
- Die Zustimmung zu den geänderten IGV ist ein klarer Verstoß gegen die Verfahrensvorschrift von Artikel 55 Abs. 2 IGV., da ein konsolidierter IGV-Änderungsvorschlag als Gesamtpaket mit 4-Monaten Vorlaufzeit bis spätestens zum 27. Januar 2024 an alle Vertragsstaaten kommuniziert hätte werden müssen. Dies ist nicht geschehen.
- Die Einhaltung dieser IGV-Verfahrensvorschrift ist insofern von hoher Bedeutung, als Fristen im Rechtsverkehr den Sinn haben, Rechtssicherheit zu schaffen. Verhandlungsgegenstände sollen den Beteiligten rechtzeitig zugestellt werden, damit diese sich innerhalb angemessener Zeit ein möglichst vollständiges Bild von der Sach- und Rechtslage machen können. Nur so ist eine fundierte innerstaatliche und demokratische Meinungs- und Willensbildung gewährleistet.
- Die Nichteinhaltung dieser 4-Monate Frist stellt darüber hinaus ein widerrechtliches Vorgehen des WHO-Sekretariats dar und ist ein elementarer Rechtsbruch seitens der WHO und auch derjenigen Vertragsstaaten, die darüber hinweggehen.
Der amtierende WHO-Generalsekretär Dr. Tedros wurde über diese Verletzung der eigenen Verfahrensvorschriften durch mehrfache öffentliche Apelle zur Befolgung der IGV-Verfahrensvorschriften aufgerufen (Offene Briefe vom 6. März 2024, 1. Mai 2024, und www.openletter-who.com). - Zu prüfen ist auch eine offensichtliche Überschreitung des Verhandlungsmandates der Europäischen Kommission (Anmerkung: Artikel 1 des Beschlusses (EU) 2022/451, siehe FN 2), die Österreich in der Arbeitsgruppe der Internationalen Gesundheitsvorschriften vertreten hat. Laut eines Schreibens des des Vereines Rechtsanwälte für Grundrechte – Anwälte für Aufklärung („RFG – AFA“) vom 29. Mai 2024 – an Bundesminister Johannes Rauch und die Ständige Vertretung Österreichs in Genf – sind insbesondere die Inhalte der staatlichen Kernkapazitäten, Annex 1 der IGV, von der unionsrechtlichen Koordinierungskompetenz auf dem Gebiet des öffentlichen Gesundheitswesens gemäß Artikel 168 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union nicht gedeckt.
Transparenz für die Bevölkerung
Madeleine Petrovic meint zu den Beschlüssen: “Wer dachte, die österreichische Bundesregierung habe aus den Rechtsbrüchen der Corona-Jahre etwas gelernt und sei willens – spät, aber doch – Brücken zu bauen und Gräben zuzuschütten, ist soeben eines Schlechteren belehrt worden: Die WHO, die überwiegend von privaten Geldgebern abhängige Weltgesundheitsorganisation, presst neue weltweite Gesundheitsvorschriften durch, bricht dabei selbst die Verfahrensvorschriften und verhindert jede demokratische Debatte in ihren Mitgliedsstaaten. Dass die österreichische Bundesregierung kurz vor den Neuwahlen nicht einmal mehr versucht, die Interessen der Bevölkerung zu vertreten und für rechtsstaatliche Transparenz zu sorgen, ist erschütternd.”
Was jedenfalls offen bleibt ist, dass die geänderten IGV und das neu geplante Pandemieabkommen inhaltlich stark zusammenhängen und sich gegenseitig sogar verstärken.
In der 77. WHA-Versammlung wurde vereinbart, die Verhandlungen über das umstrittene globale Pandemieabkommen innerhalb eines Jahres abzuschließen.